ESSEN auf RÄDERN

Beispiel eines Lebensmutes

Helmut Kurz Goldenstein wäre 70 geworden

*27.08.1941
+24.09.2004

Er saß schon im Taxi, als ich in die Körnergasse bog. HKG war immer pünktlich. Vorher war er am Geländer hantelnd vom vierten Stock ohne Lift 100 Stufen hinunter, eigentlich hat der Taxifahrer ihm den Rollstuhl herunter getragen- wer sonst sollte es getan haben.

Morgens hat Helmut Kurz- Goldenstein die 100 Stufen hinunter zu seinem Fahrrad mit drei Rädern gemeistert, umgebaut nach seinem Plan, um seine tägliche Strecke Training zum Lusthaus im Prater zu absolvieren. Anschließend fuhr er zum Karmelitermarkt. Er ist dort der erste Kunde, um sich keinen Weg bahnen zu müssen – es findet sehr früh am Tag allerlei Gemüse und der Einkauf in den Drahtkorb Platz. „Essen auf Rädern“, pflegte H.K.G. zu sagen- und schleppte seine Lebensmittel zuerst 4 Stufen mit Fahrrad, das er dann neben der Treppe wohlweislich ankettete, dann 25 Stufen in den ersten, 24 in den zweiten Stock, 24 Stufen die dritte Treppe bis zu Blaha unter ihm und dann noch mal 23 Stufen hinauf. Wohlgemerkt er zog sich und seine Lebensmittel den Handlauf hinauf. Und er schaffte es täglich mit seinem Willen. Beschwor manische Kraft, sich dem Unvermeidlichen entgegenzustemmen. Hilfe nahm er nicht an. Oben angekommen in seinen bescheidenen Räumen Top14, die ihm gleichzeitig Wohnung und Atelier, stand ein Rollstuhl bereit. Die Türstaffeln hatte er planieren lassen. Alles picco bello. Im Nebenzimmer seine Schlagzeuganlage, die er Anfang des neuen Jahrtausend fachgerecht einpackte, schöner schwarzer Edelstoff. Die Feinmotorik, sagte er, Neuropathie, Erbkrankheit. Hauptsache der Kopf funktioniert und die Liebe.
Zu einer Tasse Kaffee anlässlich eines Interviews, weiße Tischdecke und heiße Milch für den Kaffee. So gehört das, sagte er und serviert.

HKG saß also im Taxi und war guter Dinge. Wir fuhren gemeinsam ins Leopoldmuseum. HKG wollte sich unbedingt die Francisco de Goya (1746-1828) Ausstellung ansehen, die grafischen Zyklen, insbesondere die „Radierungen nach Vela´zquez“ und das erforderte eine exakte TagesPlanung. Dort angekommen funktionierte der Lift nicht und wer das Leopoldmuseum kennt, weiß, was das in diesem Fall bedeutete. Der Lift wurde nach einigem Hin und Her in Betrieb genommen und wir konnten an der Eröffnung am 3. Juni 2004 teilnehmen.

Es war für HKG die größte Freude, als ich ihn im Rollstuhl seinem Tempo entsprechend an den Zeichnungen von Goya vorbei schob, verharrte oder wieder zurück und in die andere Richtung noch einmal von vorn. Mitten drin ein plötzliches „Servus“ von Bekannten oder Kollegen. HKG war in seinem Element.“ Servas, Baron“, sagte jemand zu ihm und ich wusste, dass dieser Titel außerhalb meiner Zeit lag. Denn es muss etwa Ende der Sechziger gewesen sein, als man ihm mit diesem Namen eine Wertschätzung entgegen brachte.

Goya verarbeitet in seinem Zyklus Los Desastres de la Guerra den grausamen Krieg, den Napoleon gegen Spanien von 1808 bis 18013 führt, die brutale Realität der Soldateska, die im qualvollen Widerspruch steht zu den großen Hoffnungen, die die spanischen Vertreter der Aufklärung auf Frankreich und die Franzosen gesetzt hatten. Eindringlich schildern diese Blätter die Angst und Not, die auf beiden Seiten hervorbrechende Aggression, Gewalt und Tod als alltägliche Ereignisse sowie die den Krieg begleitende Hungersnot und das Elend.
Goya wertet nicht, doch scheint er tief getroffen von der Grausamkeit des Menschen.
Die Desastres gehen weit über die bloße Schilderung der Kriegsereignisse hinaus; sie offenbaren auch seine Ansicht von der wahren Natur des Menschen.

HKG war wie entrückt. Goya war seine Sprache. Er hatte ihn immer als großen Meister seiner Themen gesehen.

„Seine Bruderfiguren heißen George Grosz, Wilhelm Thöny, Honore’ Daumier, Alfred Kubin und John Hartfield“, schreibt Andre’ Heller in „HELMUT KURZ- GOLDENSTEIN Zeichnungen 1964-2001“. Das von seiner Ehefrau Marie- The´re`se Kerschbaumer herausgegebene Werk zum Sechziger des Künstlers spiegelt in ausgewählten Arbeiten sein Denken, seine Arbeit zur Kunst, wider.
Goya bietet im Diario de Madrid am 6. Februar die Caprichos mit folgenden Worten an: „Eine Sammlung von Drucken launiger Themen, erfunden und radiert von Don Francisco Goya. Da der Autor überzeugt ist, dass die Kritik der menschlichen Irrtümer und Laster (wiewohl sie der Redekunst und Dichtung vorbehalten zu sein scheint) auch Gegenstand der Malerei sein kann, hat er aus der Vielzahl der Absonderlichkeiten und Torheiten, die in jeder Gesellschaft von Bürgern alltäglich sind, und aus den üblichen Vorurteilen und Betrügereien, die durch Gewohnheit, Ignoranz oder Eigennutz gebilligt werden, für sein Werk diejenigen ausgewählt, die er für besonders geeignet hielt, ihm Stoff für das Lächerliche zu liefern und gleichzeitig die künstlerische Phantasie anzuregen. ...“ (Leopold Museum, Pressemappe)

„Ihn (HKG) interessieren noch die Verhältnisse, die das Bewusstsein formen.“ (Heller) und weiter: „Er ist ein unerbittlicher Ursachenforscher, und scheut sich nicht, den Dingen auf den Grund zu gehen,...“, so Heller, der auch Sammler seiner Werke ist. „Ein Chronist des Üblen und der Schande“ „Seine Respektlosigkeit gegenüber den Machthabern wird vom Respekt und der Solidarität zu den Ohnmachthabern genährt.“ (Heller)
Dies hat ihm nicht immer Vorteile eingebracht. Das entzog auch die Gesprächsbasis zwischen den beiden Kollegen und Freunden Hrdlicka und Kurz- Goldenstein. Der Herr Baron ging lieber alleine seinen Weg, als sich zu arrangieren.

Erinnern wir uns, als HKG ein Denkmal für Hartheim schuf, für die vergasten Kinder der Psychiatrie. Welches später von den Volksvertretern vernichtet wurde. Das aber hat er nie verwunden. Dies wurde nie bereinigt.

HKG- Maler, Zeichner und Musiker.

Das oben genannte Buch, 2002 herausgegeben, ist seinen beiden Söhnen gewidmet.

„...doch haben ihn alle Prüfungen und das Quälende, das seine Biographie für ihn bereithielt, immerzu nur verfeinert und wesentlicher werden lassen.“(Heller)

An seinem Haus wurde bisher keine Tafel montiert. Die Grazer Autorinnen und Autoren Versammlung, dessen Mitglied HKG, war positiv gestimmt. Wir wollten ihm für Vorübergehende ein Andenken bewahren. Die Angehörigen wollten dem Vorschlag nicht stattgeben. Man schäme sich ob dieses desolaten Hauses. Helmut Kurz Goldenstein hat gerne dort gewohnt. In der „Tschaluppen“. Zweiter Bezirk, Judenviertel. Das gefiel ihm. Er, HKG, war sich seiner Herkunft stets bewusst. Über die Salzburger aber hat er sich verächtlich gezeigt.
Seine Asche aber ruht auf dem Kommunalfriedhof Gruppe 55.
Einen Lift in Körnergasse 2 gibt es bis heute nicht.
Damals also, nach der Ausstellung fuhr das Taxi uns bis zu seiner Haustür. Ich ging weiter zur U-Bahn. HKG wollte keine fremden Augen bei seiner Kraftanstrengung in den 4. Stock. Beschämend, nicht die Möglichkeit einer Linderung seiner Situation mit vereinten Kräften...

Es gilt seiner Kunst mehr Platz in der Wahrnehmung einzuräumen. Helmut Kurz-Goldenstein hat uns ein großes noch zu schöpfendes Erbe hinterlassen!


Mechthild Podzeit- Lütjen