«Ich war bereit, ein Oblomow zu werden»
Samuel Beckett und das Warten am Ende der Hoffnung8. April 2006, 02:05Erst mit
vierzig Jahren vollzog Samuel Beckett die entscheidende Hinwendung zur Berufung
des Schriftstellers. Bis dahin hatte er gewartet. Dieses Warten erweist sich
als grundlegend für sein gesamtes Werk - Romane, Gedichte und Stücke.
Beckett war ein Avantgardist des Wartens.
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«Nur der Baum lebt.» Dieser Satz, obgleich in Becketts «Warten
auf Godot» leichthin gesprochen, ist nach dem zweiten oder dritten Wiederhören
der wohl traurigste Satz der Weltdramatik. «Nur der Baum lebt.»
Bodenlos ist die Agonie, das Aufstöhnen dieses Gedankens. Mit diesem Satz
wechselt ein Mensch die Welt, in der er lebt, ohne sie zu verlassen. Er nimmt
seine Existenz ohne Sinn und Gewicht an, als sein unerlöstes, aber zu lebendes
Leben. Statt Trost ein Bewusstsein für Spiele, statt Halt die streng rationalen
Zeremonien eines Versuchs, zur Sprache zu kommen. Unterbrochen nur vom Schweigen,
von dem langen Atem der Einsamkeit und der Erfahrung der Abwesenheit.
Auf den Ausdruck dieser Erfahrung gründen sich der Reichtum von und die
unüberwindliche Nähe zu Becketts Texten. Was den Menschen von sich
und der Welt entfremdet, ist nichts, was ihm allein von den «Verhältnissen»
zugefügt wurde - er ist, wie es Ionesco im Blick auf Beckett beschrieb,
entfremdet geboren. Die Geste, mit der Beckett seine reduzierten Helden aus
der horizontalen Dimension des Lebens herauslöst, aus ihrer Einbettung
in Gesellschaft, Herkunft und Klasse, lenkt den Blick in die Vertikale, auf
das Darüber und Darunter, den Himmel und das Grab.
Verloren und Erdrückt
«Nur der Baum lebt» - diesem Satz zu folgen, heisst, die sternengreifende
Jugend weit hinter sich zu lassen. Becketts Helden sind keine jungen Männer
und Frauen. Sie sind Erinnerer, Loners, klassenlose Randgänger und Gestrandete,
wie sie wohl nur in den jüngeren Stücken von Jon Fosse wiederkehren.
In einem Gespräch mit Charles Juliet erzählt Beckett von den düsteren
Jahren, nachdem er seine Stellung an der Universität Dublin aufgegeben
hatte. Er lebte zunächst in London, dann in Paris. Und hatte, so berichtet
er Juliet, auf eine glänzend begonnene Hochschullaufbahn verzichtet, ohne
deswegen schon Schriftsteller werden zu wollen. Er bewohnte ein kleines Zimmer
in einem Hotel am Montparnasse und fühlte sich verloren und erdrückt,
wie ein Wrack. «Ich war bereit», so Beckett, «ein Oblomow
zu sein (. . .). Ich hatte immer das Gefühl, als ob in mir ein Ermordeter
wäre, ein vor meiner Geburt Ermordeter. Ich musste diesen Ermordeten wieder
finden. Versuchen, ihn wiederzubeleben.»
Er lebte anfangs vom schmalen Erbe seines Vaters. Spätere Versuche, als
Literaturkritiker zu arbeiten, scheiterten, eine Übersetzung von Rimbauds
«Bateau ivre» für einen amerikanischen Verlag hielt ihn über
Wasser. Er schrieb drei Romane, auf deren Veröffentlichung er kaum hoffte,
bevor er sich nach der deutschen Besetzung von Paris der Résistance anschloss,
der Verhaftung durch die Gestapo knapp entging und bis Kriegsende als Landarbeiter
im Roussillon lebte. 1946, beim Besuch seiner Mutter in Irland, vollzog sich
Becketts Verwandlung zum Schriftsteller. Sie ereignete sich auf einem seiner
ausgedehnten Spaziergänge, an der Mole im Hafen von Dun Laoghaire bei Dublin.
Plötzlich wusste er, was tun. Er war damals vierzig Jahre alt. In «Das
letzte Band» heisst es, mit Blick auf jene denkwürdige Nacht im März,
am Ende der Mole, im Sturm: «Endlich war klar, dass die Finsternis, die
ich immer verzweifelt zurückzudrängen versucht hatte, in Wirklichkeit
mein Bestes ist - unzerstörbare Verknüpfung bis zu meinem letzten
Atemzug von Sturm und Nacht mit dem Licht der Erkenntnis und dem Leuchtfeuer
. . .»
In rascher Folge entstanden zwischen 1947 und 1949 seine wichtigsten Werke,
«Molloy», «Malone stirbt», «Warten auf Godot»
und der «Namenlose». Manuskripte, die ohne nachträgliche Korrektur
in Druck gingen. «Ich bin kein Intellektueller», sagte Beckett in
einem Gespräch mit Gabriele D' Aubarede. «Alles, was ich bin, ist
Gefühl. Molloy und all die anderen kamen an dem Tag zu mir, als ich mir
meiner eigenen Verrücktheit bewusst wurde. Erst dann begann ich, die Dinge
zu schreiben, die ich fühle.»
Im ersten Moment überrascht dieser Hinweis auf das Sentiment, sowohl bezüglich
der Person des Dichters als auch des Werks. Beckett als Person, das ist der
Asket. Man kann ihn sich, so beschrieb es Cioran, ein paar Jahrhunderte früher
in einer kahlen Zelle vorstellen, von jeder Dekoration unberührt, nicht
einmal ein Kruzifix. Cioran verweist auf den abwesenden, rätselhaften,
«unmenschlichen Blick» Becketts auf einigen Fotografien, der an
die Augen des drogengegerbten Gesichts von Keith Richards erinnert. Sie halten
ihre Zigarette auf die gleiche Weise, wie sie es mit dem Leben halten. Dabei
lebte Beckett skandalös einfach, in einer schmucklosen Wohnung im obersten
Geschoss eines Hochhauses am Boulevard Saint-Jacques, zwischen einer Garage
und einer presbyterianischen Kirche, mit Aussicht auf die Santé, das
grosse Pariser Gefängnis.
Avantgarde
Beckett war elegant und höflich, diskret und frei von Neid; er wechselte
die Sprachen, um der Gefahr des «Stils» zu entgehen, und verliess
die Tischgesellschaften, wenn ihm das Gespräch aufdringlich erschien. Seine
Texte brachten einen Ton in die Welt, der bis dahin nie vernommen wurde. Er
war die Avantgarde und zugleich ein vollkommener Solitär. Avantgardist,
da er am Totpunkt der Literatur laborierte, ebenso wie die Avantgarde der Malerei
am Totpunkt des Abbilds arbeitete, die der Musik an ihrem eigenen Verklingen,
dem Übergang zum Geräusch. Avantgardist im Sinne einer Reduktion auf
das gerade noch Unentbehrliche: Seine Figuren sind Torsi, Namen- und Herkunftslose,
leben in einer Mülltonne, einem Schaukelstuhl, sind nur noch ein Mund,
das Echo ihrer selbst oder Schritte. Avantgarde - das ist das Fluchtgepäck
der Moderne, der Versuch, das Leben in Gestalt der Kunst unter den Minimalbedingungen
des drohenden Todes hinüberzuretten in die Zukunft. Und Beckett, so erscheint
es immer deutlicher, war der Avantgardist des Wartens, der nicht aufgegebenen
Erwartung.
Er schuf sich und seine Welt im Erlebnis und abgrenzenden Studium des Schaffens
von James Joyce und Marcel Proust. Becketts erste Veröffentlichung war
ein Essay mit dem Titel «Proust», ein Text, der das gesamte spätere
?uvre des Dichters Beckett vorwegzunehmen scheint, ja dieses letztlich nur als
die ungeheuerliche Entfaltung jenes Wissens und Empfindens erscheinen lässt,
zu dem ihn die Entdeckungsfahrten «In Swanns Welt» führten:
«Prousts Geschöpfe sind Opfer dieser vorherrschenden Bedingung und
dieses vorherrschenden Umstands - Zeit; Opfer, wie niedrigere Organismen Opfer
sind, die nur zwei Dimensionen kennen und plötzlich mit dem Mysterium der
Höhe konfrontiert werden: Opfer und Gefangene.»
Becketts Werk liegt als programmatischer Nukleus in diesem Essay bereits fertig
vor. Doch anders als Proust und Joyce nimmt Beckett in seinem Schaffen Abschied
von dem Versuch, das «Ganze» in der Umfassung und Gleichsetzung
der Gegensätze abzubilden. Die unerhört reiche, «negative Anthropologie»,
wie sie Klaus Bahners nennt, läuft bei ihm auf den Zweifel hinaus, die
grosse Unbewegtheit, die Ununterscheidbarkeit von leerem und vollem Bewusstsein
- weder noch, heisst es in seinem Gedicht «neither»: «Hin
und her vom innern zum äussern Schatten / vom unergründlichen Selbst
zum unergründlichen Nichtselbst / weder so noch so / wie zwischen zwei
erleuchteten Zufluchten, deren Türen beim Nähern / sacht sich schliessen,
beim Abwenden / sacht wieder sich öffnen / gesandt her und hin und abgewandt
/ ungeachtet den Weg, bedacht auf den einen Schimmer / oder den anderen / unerhörte
Schritte einziger Laut / bis zuletzt einhalten für immer, fort für
immer / vom Selbst und dem andern / dann kein Laut / dann sachtes Licht unverlöschlich
auf jenem unbedachten / weder noch / unsprechbares Zuhause.»
Beckett ergab sich nicht der Versuchung, ein Oblomow zu werden. Er spürte
die Verführung. Aber er ging spazieren, bis hin zur Mole des Hafens von
Dun Laoghaire bei Dublin - nicht gelöst, nicht frei schreitend, sondern
wohl eher verzweifelt. Er wurde vierzig, bis er wusste, was er, Beckett, fühlt.
Doch Becketts existenzielles «Warten», sein «Weder-noch»
haben, so scheint es, die nachfolgenden Generationen nicht mehr ausgehalten.
Eugène Ionesco nannte Becketts Figuren «Hiobs auf dem Misthaufen».
Mit diesem Misthaufen sollte aufgeräumt werden - im Namen der historischen
Wahrheit, der Demokratie oder des Sozialismus. Beckett hingegen machte einen
grossen Schritt zur Seite. Sein Stöhnen weist in die Höhe, vorsätzlich
geäussert aus den niedrigsten Niederungen. Becketts revolutionäre
Texte sind Texte nach der Revolution. In ihnen ist der Traum der sozialen Erlösung
ausgeträumt.
Die Abwesenheit der Erlösung
Becketts Texte quittieren den Bankrott jeder Revolution, jeder weltlichen Eschatologie.
Das auszuhalten und anzunehmen, fällt schwer. Doch Erlösung ist für
Beckett kein Angebot. Eher ein leidvolles Aushalten ihrer Abwesenheit, mit Blick
auf die Santé. Insofern scheint sich unsere Zeit dem Weltempfinden von
Beckett langsam wieder anzunähern - die grossen Erlösungsversprechen,
und auch die kleinen, zogen vorüber, Francis Fukuyamas «Ende der
Geschichte» scheint erschüttert durch Usama bin Ladin, doch Beckett
würde sagen: weder noch. Er setzte an die Stelle von Erlösungshoffnungen
seine Bilder des Wartens - im wahrsten Sinne: «Warten auf Godot»
ist ursprünglich inspiriert von Caspar David Friedrichs Gemälde «Zwei
Wanderer, den Mond betrachtend», das Beckett auf seiner verzweifelten
Deutschlandreise 1937 in Berlin sah. Seine Stücke sind allesamt Bilderfindungen
für einen Circulus vitiosus des Immergleichen, der Conditio humana.
Es ist, ohne einen generellen Trend beschreiben zu wollen, auffällig, dass
im Gegenwartstheater, nach dem Ende der Ära des Konzepttheaters, plötzlich
wieder das begriffslose Bild im Vordergrund vieler Inszenierungen steht: Alvis
Hermanis, Luk Perceval, Robert Lepage, Simon McBurney, auch Frank Castorf mit
Bert Neumann und Jonathan Meese, Peter Sellars mit Bill Viola - sie schaffen
begriffslose, aber verständnistiefe Bilder wie einst Beckett mit Baum und
Stein in öder Landschaft für Estragon und Vladimir, mit Fenster, Rollstuhl
und Leiter für Hamm und Clov, mit Mülltonnen für Nell und Nagg,
dem Tonband für Krapp, dem riesigen Himmel über der Einöde von
Winnie und Willie. Beckett, inspiriert von der bildenden Kunst, hatte viel Gefühl
für Bilder, die mehr und Dauerhafteres erzählen als die Interieurs
seiner Tage.
Und man kann sich, so merkwürdig es klingt, auf Becketts Gefühl verlassen:
Seine Ausschaltung der Horizontalen, vorgelebt in der noblen und spartanischen
Existenz des Dichters, der Intimität und Integrität seines Werkes
- sie leitet den Blick auf die Vertikale. Nicht sentimentalisierend, aber gesättigt
von Sentiment. Wir scheinen, als Theaterkünstler, in Anbetracht der Radikalität
dieses Dichters, immer zu jung. Zu bürgerlich. Zu ergeben der Achtung,
der Etikette, dem Einkommen. Diese Distanz bleibt. Wir nähern uns ihm nur
ausnahmsweise, wie Shakespeare, wie Kleist. Lebenslang auf der Suche nach einem
Sturm und Hafen wie dem bei Dublin. Becketts Satz «Nur der Baum lebt»
ist dafür ein Kompass. Er bindet über die Erfahrung von Traurigkeit.
Und zugleich formuliert er eine Einsicht, einen Mut zur Distanz: Beckett lebte,
wie Cioran es nannte, nicht in der Zeit, sondern neben der Zeit. «Nur
der Baum lebt» - dies ist ein Satz, der vor Hunderten von Jahren in einer
nackten Zelle hätte gesprochen werden können, von Konfuzius oder Meister
Eckhart, Mohammed oder Ibn'Ata Allah, denn ihm wohnt auch Heiterkeit inne. Vielleicht
die letzte, die unverkäuflich bleibt.
Thomas Oberender, ab 2007 Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele, arbeitet
als Autor, Dramaturg und Co-Direktor am Schauspielhaus Zürich.